Warum wir eine Giraffe kaufen
Ihr fragt euch jetzt sicherlich, was Giraffen mit Vereinbarkeit zu tun haben. Jetzt mal ehrlich: Mögt ihr Giraffen? Ich habe noch nie jemanden getroffen der sie nicht mag. Sie sind friedlich, suchen keinen Streit, lassen andere genauso sein wie sie sind und wirken immer mega-entspannt. Außerdem sieht es lustig aus, wenn sie rennen galoppieren.

Sie behalten immer den Überblick und sind jedoch nie überheblich.
Und genau das ist der Knackpunkt: Ich bin sicher, alle von euch, die sich tagtäglich mehr oder weniger an der Vereinbarkeit die Zähne ausbeißen kennen Dialoge, wie den folgenden. Der hat übrigens so nie stattgefunden. Schließlich lieben wir uns und sind ein Herz und eine Seele.
(Wenn ihr ganz genau hinseht, könnt ihr vielleicht die kleinen Einhörner unter unserer Zimmerdecke schweben sehen. Manchmal pupsen sie Regenbögen.)
Olli: Holt Einhalb vom Kindergarten ab. Legt Informationszettel aus dem Kindergarten ins Auto. Fährt direkt weiter und holt gemeinsam mit Einhalb die Zweitgeborene ab.
*etwa eine Woche später
Jette:
Räumt Einkäufe aus dem Auto und nimmt Zettel mit in die Wohnung. Liest.
„WAS? Ganztägige Fortbildung ALLER Erzieherinnen (und des einen Erziehers)?! Das ist ja schon nächste Woche! Warum lässt du die Zettel einfach liegen? Jetzt sag doch mal was!“
Olli: … äh …
Jette (ohne wirklich zu warten): „NIE liest du die Zettel – DU musst die auch mal lesen! Wenn Du das mitnimmst, dann bist du auch dafür verantwortlich. ICH kann da nicht freinehmen! Was soll das überhaupt für eine Fortbildung sein?“
Und schon hat man die schönste, allerdings auch unproduktivste Diskussion. Ganz schnell werden hier ganz viele Ebenen vermischt und das eigentliche Problem: Ein zusätzlicher Schließtag des Kindergartens gerät völlig aus dem Blickfeld.
Stick and stones can break my bones …
… but words can never hurt me. Was ein Blödsinn! Viel häufiger sind es doch die Worte an die wir uns erinnern, besonders wenn sie wunde Punkte treffen. Insbesondere wenn wir in Stress geraten und unsere sorgsam erarbeiteten (Vereinbarkeits-)Pläne ins Schwanken geraten, schalten viele von uns quasi automatisch auf Gegenangriff.
Der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg nennt diese Art der Kommunikation Wolfssprache. Wenn wir, nicht unähnlich dem Raubtier, immer direkt auf Angriff gehen. Diese Art der Kommunikation liegt uns anscheinend deutlich mehr als ihr Gegenstück: Sucht sie doch die „Schuld“ beim anderen. Das Gegenstück ist die Giraffe. Sie sind Rosenbergs Patentier für erfolgreiche, gewaltfreie Kommunikation.
Gewaltfreie Kommunikation: Nur seichtes Psycho-Blabla?
Bei der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation geht der Sprecher immer von sich aus und kommuniziert offen seine Beobachtung, seine Gefühle und Bedürfnisse. Am Abschluss wird eine Bitte formuliert.
Um bei dem oben genannten Beispiel zu bleiben, hätte ich ja auch sagen können: „Hier steht, dass der Kindergarten aufgrund einer Fortbildung einen zusätzlichen Schließtag hat. Der ist schon nächste Woche. Ich wünsche mir, dass du die Zettel, die du aus dem Kindergarten mitnimmst liest und mich darüber informierst, sodass wir eine Lösung finden können.“
Ganz ehrlich? Liegt mir nicht so. Felicitas Richter schreibt in ihrem Buch selbst, dass es in ihren Seminaren an diesem Punkt oft anfängt zu grummeln. Ich kann das total gut verstehen. Schon das Umformulieren unseres überspitzt gezeichneten Familiendisputs fiel mir schwer.
Gleichzeitig sehe ich aber auch den Mehrwert, dieser Art zu kommunizieren: Ich muss erstmal genau auf mich achten. Das kann ja schon deshalb nicht schaden, weil ich nur für mich verantwortlich bin. Wie mein Gegenüber reagiert, was er macht, liegt nicht in meiner Macht. Außerdem bleibe ich bei mir – und verhindere so, dass mein Gegenüber sich angegriffen fühlt. Wodurch er wiederum offener antworten kann.
Aber was hat das mit Vereinbarkeit zu tun?
Gewaltfreie Kommunikation, so der Gedanke, ist wichtig um dem Perfektionismus und damit der latenten Überforderung zu entkommen. Denn Vereinbarkeit ist nicht: Wenn ich immer diejenige bin, die allein es richtig machen kann. Wenn immer nur ich alleine für alles verantwortlich bin. Wenn immer nur ich die Lösung für alle Probleme wissen muss – und zwar sofort.
Aber eigentlich ist das ja in den seltensten Fällen wirklich so, oder?

Ein gut geführter Kalender hilft zwar: Aber er ist nicht der Schlüssel zur Vereinbarkeit.
Das Buch strotzt vor Beispielen, wie wir versuchen alles hinzubekommen und trotz perfekter Organisation von der grausigen Realität des Alltags (Kind krank, Kollege krank, Kunde droht mit Auftrag, etc.) überholt werden. Aber das Beispiel hinkt ja schon am Anfang: Denn wer hat schon die perfekte Organisation? Die wichtigste Idee von „Schluss mit dem Spagat“ ist daher der Verzicht auf Multitasking, auf das Gefühl für alles und jedes, jederzeit zuständig zu sein. Vielmehr geht es darum, achtsam zu sein.
Die Idee ist so einfach wie genial „Simple present“ – einfach da sein. Bei sich und seinem Gegenüber sein, in diesem Moment und/oder bei dieser zu bewältigenden Aufgabe. Olli und ich haben das Buch beide gelesen (bzw. uns als Hörbuch vorlesen lassen). Und während es sich so einfach liest und auch in wenigen Worten gut umreißen lässt, ist es im Alltag doch nicht ganz so simpel. Nicht umsonst hat das Buch etwas über 200 Seiten.
Simple present im Alltag mit zwei (kleinen) Kindern
In ganz vielen Fällen gelingt es uns nicht, ganz bei einer Aufgabe zu bleiben. Hier einige Beispiele aus den letzten Wochen:
- Das Buch „Schluss mit dem Spagat“ ließen wir uns vorlesen, während ich Kleider für die Mädels nähte, die diese auf einer Hochzeit anhatten.
Da ich den Gedanken des Buchs folgen wollte und es sich um nicht ganz einfache sowie für mich neue, Schnittmuster handelte, trennte ich manche Naht auf (allerdings wurde alles termingerecht fertig). - Einhalb berichtete etwas aus dem Kindergarten, während Olli versuchte Abendbrot zu kochen.
Irgendwann hatte das Kind schlechte Laune („NIE hörst du mir zu!“) und die Kartoffeln waren mehr so für Püree geeignet. - Ich las Einhalb ein Buch vor, worauf Zweihalb laut protestierend auch Aufmerksamkeit forderte.
Zweihalb kletterte auf meinen Schoß, blätterte lustig um, verknickte die Seiten. Eine Lösung habe ich auch mit Simple Present nicht: Kleinkinder haben es ja noch nicht so mit der späteren Bedürfnisbefriedigung und die große Tochter soll auch nicht immer die „Vernünftige“ sein müssen.
Aber es wird:
- Während ich mit Zweihalb spielte, spähte ich auf mein Diensttelefon – und untersagte mir im letzten Moment eine neue Mitarbeiterin in einer kurzen Mail für eine wirklich gute Leistung zu loben. Am nächsten Tag habe ich einen bestehenden Gesprächstermin genutzt, ihr ganz dezidiert, dieses Lob auszusprechen: Mit Zeit und echter Wertschätzung.
Die Idee des Simple Present hat uns aber überzeugt. Also versuchen es weiterhin: In unseren Tagen und mit unseren Worten. Und um eine sichtbare Erinnerungsstütze zu haben, warten wir sehnsüchtig auf unsere kleine Giraffe…
Dieser Artikel ist ein Beitrag zum eBook: Simple Present im Praxistest von Felicias Richter. In der Vorbereitung haben wir das Buch vom Verlag zur Verfügung gestellt bekommen – und das Hörbuch gekauft. Unser Print-Exemplar verlosen wir unter allen Lesern, die uns bis zum 19. Juni 2016 einen kurzen Kommentar hier lassen.
Petite Lap Giraffes könnt ihr hier bestellen (oder es handelt sich nur um gut gemachte Werbung! Ich will die trotzdem haben!)
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